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Energieversorgung und Nachhaltigkeit in der Pharmabranche: „Hier prallen Zielsetzungen aufeinander“

Unsere Expert:innen im Interview: Prof. Dr. rer. nat. habil. Christine Schimek über Energieversorgung und Nachhaltigkeit in der Pharmabranche.

SRH Fernhochschule | Prof. Dr. habil. Christine Schimek

Die pharmazeutische Industrie hadert stets mit ihrem Ruf, unterliegt dabei strengen Auflagen und muss sich nun auch noch um bezahlbare Energien sorgen. Das hat sie zwar mit vielen anderen Branchen gemeinsam – "tickt" an entscheidenden Stellen aber doch ganz anders, sagt Prof. Dr. rer. nat. habil. Christine Schimek. Nachhaltigkeit ist in der Pharmabranche jedenfalls mehr als nur ein Trend. Trotzdem: "Ohne Kompromisse wird es nicht gehen."

Frau Prof. Dr. Schimek, Nachhaltigkeit ist nicht nur in aller Munde, sondern auch erklärtes Ziel von Politik und Wirtschaft im Land. Welchen Stellenwert hat das Thema in der pharmazeutischen Industrie?

"Grundsätzlich einen sehr hohen. Die Branche beschäftigt überdurchschnittlich qualifizierte Mitarbeiter:innen – Wissenschaftler:innen, Techniker:innen, Laborant:innen. Viele von ihnen sind sich der Herausforderungen im Umwelt- und Klimaschutz sehr bewusst. Die Unternehmen befördern das auch, kommunizieren glaubhaft intern und extern dazu. Trotzdem ist die öffentliche Wahrnehmung häufig eine andere."

Sie meinen, dass Big Pharma nicht gerade den besten Ruf hat, wenn es um Umweltschutz, soziale Verantwortung und Energieverbrauch geht?

"Natürlich steht auch die Pharmabranche unter Handlungszwang, aber sie ist extrem stark reguliert und damit ohnehin strengen Auflagen unterworfen. Gleichzeitig messen die Firmen Nachhaltigkeit und Umweltschutz einen viel höheren Stellenwert in Bezug auf ihre wirtschaftlichen Ziele bei, als dies in anderen Branchen der Fall ist. Mehr als 80 Prozent halten diesen Punkt für wichtig oder sehr wichtig. So agieren sie auch. Es ist also nicht so, dass wenig passiert. Es wird hier in Deutschland eher nicht wahrgenommen."

Die pharmazeutische Industrie misst Nachhaltigkeit und Umweltschutz einen viel höheren Stellenwert bei, als dies in anderen Branchen der Fall ist.
Prof. Dr. rer. nat. habil. Christine Schimek

Aber ist es international denn anders? Die Pharmabranche ist global aufgestellt, muss man das nicht entsprechend gewichten?

"Einen Großteil ihrer Wertschöpfung erzielen auch hiesige Unternehmen nicht in Deutschland. Hier fehlen jedoch die Vergleichsdaten. Für Deutschland wissen wir, dass die Chemie- und Pharmabranche gemeinsam für bis zu einem Drittel des Energieverbrauches der produzierenden Industrie verantwortlich sind. Aber diese Zahlen können in die Irre führen: Chemie und Pharma werden hier zusammen betrachtet, dabei entfallen fast 95 Prozent des Verbrauchs auf die Chemieunternehmen. Wenn man den Pharmasektor also isoliert betrachtet, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Hinzu kommt, dass der Verbrauch in beiden Sektoren seit den 1990er-Jahren beträchtlich zurückgegangen ist."

Trotzdem sagen Sie, die Pharmabranche sei unter Zugzwang. Wo müssen die Unternehmen ansetzen?

"Fast alle großen Pharmaunternehmen produzieren zwar auch in Deutschland, sind aber mehrheitlich nicht lokal aktiv, sondern global aufgestellt. Die größten Zulieferer für Wirkstoffe, und inzwischen auch für Endprodukte, sind Indien und China. Die Pandemie hat ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass es nicht die beste Idee ist, wenn man sich zu sehr auf einzelne Regionen und Zulieferer verlässt. Gleichzeitig haben wir es mit riesigen, hochregulierten und vernetzten Systemen zu tun. Man kann hier nicht von heute auf morgen die Prozesse umstellen. Natürlich möchte man die Netzwerke stabiler gestalten, um Engpässe zu vermeiden und die Klimaziele zu erreichen. Aber ist es deshalb sinnvoll, die Produktion näher heranzuholen? Hier ringt die Pharmabranche ebenso wie viele andere um Lösungen. Dabei prallen Zielsetzungen aufeinander, selbst wenn den Unternehmen Nachhaltigkeit erklärtermaßen wichtig ist."

Wirtschaftsminister Habeck hat unlängst bekräftigt, den Wohlstand auf Kosten des Klimaschutzes zu wahren, sei nicht mehr möglich.

"Viele pharmazeutische Unternehmen haben eigene Strategien entwickelt und unterstützen weltweit lokale Projekte, um ihre Nachhaltigkeitsbestrebungen zu untermauern. Auch bezüglich der sozialen Dimension von Nachhaltigkeit sind diese Anstrengungen aller Ehren wert. Deshalb sind diese Unternehmen attraktive und verantwortungsvolle Arbeitgeber, was schon allein aufgrund des Fachkräftemangels in der Branche wichtig ist. Aber selbstverständlich ist man immer auch den Shareholdern gegenüber verantwortlich. Pharmazeutische Unternehmen müssen, wie alle Unternehmen in Deutschland, Gewinne erwirtschaften. Einschränkend wirken hier die Vorgaben des Staates, der eine Gesundheitsversorgung für alle aufrechterhalten muss. Das schließt auch sehr teure Medikamente mit ein, die eigentlich kaum finanzierbar sind, was vom staatlichen Gesundheitssystem dennoch geleistet wird. Also wird die Preisbildung gesetzlich geregelt, das ist seit jeher ein Streitpunkt. Solange wir nicht davon wegkommen, dass Wirtschaft immer wachsen muss, werden wirtschaftliche Ziele und Nachhaltigkeitsziele immer einen vermeintlichen Gegensatz bilden."

Aber die Pharmabranche steht doch nach wie vor sehr gut da, oder nicht?

"Unsere Sicht auf die Branche erfolgt aus unseren noch immer sehr gut aufgestellten Systemen und Märkten heraus. Zwar kann man die hohen Entwicklungskosten, die die Pharmaunternehmen gerne anführen, nicht immer ganz nachvollziehen. Sie betreiben auch erfolgreich Lobbyarbeit, das haben sie mit praktisch allen Branchen gemeinsam. Und doch ist der Aufwand unbestreitbar gegeben, und Probleme sind nicht von der Hand zu weisen. Wenn das deutsche Patentrecht pharmazeutische Produkte maximal 20 Jahre schützt, dann nimmt die Entwicklungszeit für ein neues Medikament gut die Hälfte dieses Zeitraums ein. Die Chancen für einen erfolgreichen Markteintritt sind mit durchschnittlich nicht einmal acht Prozent sehr gering. Klappt es, dann bleiben Ihnen als Unternehmen noch zehn Jahre – und dann kann die Konkurrenz, vor allem die Generikahersteller, es Ihnen nachmachen und dasselbe Produkt viel günstiger vermarkten. Dort hat man ja kaum Entwicklungskosten, die man wieder hereinholen muss. Wenn in so einer Gemengelage noch die Nachhaltigkeit mitgedacht werden muss, dann wirkt sich das natürlich darauf aus, wie es vorangeht. Ich sehe es auch nicht als Pflicht eines Unternehmens an, die politischen Aufgaben der Regierung zu erfüllen."

Auch wenn die Branche weniger Energie verbraucht als gemeinhin angenommen, ist diese in Deutschland doch vergleichsweise teuer. Besteht angesichts schwieriger Rahmenbedingungen nicht die Gefahr, dass Unternehmen abwandern? BioNTech zum Beispiel verlagert Teile der Produktion jetzt nach Großbritannien.

"Der Gasverbrauch ist angesichts der Preisentwicklung natürlich ein Thema. Allerdings hatte man sich zuvor bewusst für Gas entscheiden, weil es das einzig Tragbare war, um die hohen Mengen an benötigter Prozessenergie bereitzustellen. Sicher kann es für Unternehmen attraktiv sein, jetzt nach England oder in die USA zu schielen, weil energieintensiven Branchen dort Vorteile winken. Die Regulierungsebenen sind aber in den USA auch nicht anders als hier. Gerade aufgrund der wirtschaftlichen Bedeutung sehe ich die Gefahr einer Abwanderung im großen Stil eher nicht. Die chemisch-pharmazeutische Industrie ist nach der Automobilbranche und dem Maschinenbau der drittgrößte Industriezweig in Deutschland. Den möchte man nicht wirklich ans Ausland verlieren."

Sie meinen, man wird der Branche entgegenkommen müssen?

"Man wird zumindest Wege finden müssen, damit wir eine finanzierbare Medikamentenversorgung für alle aufrechterhalten können. Ohne Kompromiss wird es nicht gehen."

Das nachhaltige Engagement eines Pharmaunternehmens ist für Arbeitnehmer:innen kein Kriterium bei der Wahl des Arbeitgebers.
Prof. Dr. rer. nat. habil. Christine Schimek

Haben wir als Verbraucher:innen Einfluss auf die Entwicklungen in der Branche?

"Ja und nein. Vorhin haben wir über die Produktion in Indien und China gesprochen. Mit dieser Tatsache kommen wir jetzt in Berührung, wenn wir in der Apotheke keinen Fiebersaft mehr kaufen können. Dann beklagen wir uns über diesen offenkundigen Mangel. Andererseits haben wir als Patient:innen wenig Entscheidungsmöglichkeiten. Wenn Ihnen Ihr Arzt ein Medikament verschreibt, weil es Ihnen nicht gut geht, dann werden Sie kaum mit ihm diskutieren. Sie haben nicht einmal Einfluss darauf, welches Medikament Sie bekommen. Und selbst wenn: Ein Zertifikat oder dergleichen, das Ihnen eine besonders nachhaltige Produktion nachweisen würde, gibt es nicht."

Sie sagten vorhin, Mitarbeiter:innen in der Pharmabranche hätten ein hohes Bewusstsein für Klimaschutz und Nachhaltigkeit. Wird sich das noch stärker in der Branche auswirken?

"Ich sehe es bei meinen Studierenden. Viele sind ja schon im Beruf und nutzen ihr Studium, um sich gezielt weiterzubilden. Das Bewusstsein, dass wir grundlegende Veränderungen brauchen, ist sehr präsent. Doch geht es ihnen auch um die Existenzsicherung. Viele gründen Familien oder wünschen sich ein Eigenheim. Das nachhaltige Engagement eines Unternehmens ist auch deshalb kein Kriterium bei der Wahl des Arbeitgebers, weil die Unternehmen der Branche in Deutschland nicht gleichmäßig verteilt sind. Eine Abstimmung mit den Füßen im großen Stil findet also nicht statt. In Regionen, in denen mehrere Unternehmen Standorte betreiben, gibt es durchaus Konkurrenz. Da wechseln die Leute auch mal. Aber dann sind in der Regel andere Faktoren entscheidend, nicht die Nachhaltigkeit."

Dabei wird ständig und überall über die Nachhaltigkeit geredet. Besteht nicht die Gefahr, dass wir des Themas überdrüssig werden, auch wenn es immer dringender wird? Wir Menschen handeln und denken ja nicht immer rational.

"Nicht nur die Unternehmen in der pharmazeutischen Industrie haben das Gefühl, sich deutlich positionieren zu müssen. Das führt schnell zum Vorwurf des Greenwashings, wenn ständig alle laut ihre Nachhaltigkeitsbestrebungen präsentieren. Wenn man stattdessen nachhaltige Ansätze in die tatsächlichen unternehmerischen Aktivitäten einbindet und damit glaubhaft macht, dass Nachhaltigkeit ein integraler Bestandteil der Unternehmensphilosophie und der fertigen Produkte ist – dann muss man es auch nicht fortwährend lautstark kommunizieren."

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Prof. Dr. rer. nat. habil. Christine Schimek

ist promovierte Biologin und seit 2015 Professorin für Life Sciences an der SRH Fernhochschule – The Mobile University. Als Leiterin der Fachgruppe ist sie Ansprechpartnerin für den Studiengang Pharmamanagement und -technologie. Darüber hinaus ist sie Koordinatorin für CORE, das kompetenzorientierte Lehr-Lernkonzept der SRH Fernhochschule. Christine Schimek blickt auf eine jahrzehntelange Karriere in Forschung und Lehre zurück, mit Stationen an den Universitäten Marburg und Jena, wo sie sich 2005 habilitierte. Seit neun Jahren ist sie im oberschwäbischen Riedlingen zu Hause.