Unsere Expert:innen im Gespräch: Prof. Dr.-Ing. Stefan Müller, Professor für Wirtschaftsingenieurwesen und Digitalisierung, über die Herausforderungen der digitalen Ökonomie. (Lesedauer: 9 Minuten)
Die globale Industrie ist im Wandel, ob wir wollen oder nicht. Das bringt für Unternehmen in Europa viele Chancen mit sich, aber auch genug Herausforderungen. Die können wir meistern, wenn wir nur wollen, sagt Prof. Dr.-Ing. Stefan Müller, Experte für Wirtschaftsingenieurwesen und Digitalisierung an der SRH Fernhochschule. Was es dafür braucht, hat er uns im Interview verraten – und auch, was Europas Industrie dazu noch fehlt: Eine gemeinsame Vision zum Beispiel!
Herr Prof. Dr. Müller, Industrie 4.0 ist ein facettenreicher und komplexer Begriff und nicht unumstritten. Wie würden Sie ihn heute definieren?
"Der Begriff Industrie 4.0 bzw. das Zukunftsprojekt ‚Industrie 4.0‘ entstammt der Hightech-Strategie der deutschen Bundesregierung. Industrie 4.0 wurde in den vergangenen Jahren primär technologisch verstanden und vorangetrieben, auf dem Weg zur sogenannten Smart Factory. Damit ist eine weitgehend selbst organisierte Produktionsumgebung ohne menschliche Eingriffe gemeint. Sowohl in Europa als auch in China und den USA versteht man darunter eine digital vernetzte Produktion mit intelligenten Fertigungssystemen. An dieser Stelle ist ein Paradigmenwechsel zu beobachten. In der digitalen Ökonomie verschiebt sich die Kernwertschöpfung von der Produktion in Richtung Neue Services, die Applikationsplattform ist entscheidend. Industrie 4.0 ist nach zehn Jahren also weniger ein technologisches Thema, sondern vielmehr im Kontext der digitalen Ökonomie zu betrachten. Die Technologie wird Basisforderung."
Aber schon mit dieser Basisforderung haben viele Unternehmen doch Probleme, oder?
"Auch eine Basisforderung stellt hohe Anforderungen. Natürlich haben Unternehmen ein Problem, wenn sie Technologien nicht beherrschen. Was früher ein Begeisterungsmerkmal war, ist heute Teil der Basisforderung. Als die ersten Airbags in den Pkw Einzug hielten und später die Navigationssysteme, konnte man die Kund:innen damit begeistern. Wenn Sie das heute einbauen, sind Ihre Kund:innen nicht unzufrieden – aber zufrieden noch lange nicht. Für einen Airbag zahlt heute niemand mehr einen Aufpreis. Dabei werden die Anforderungen an die Sicherheitstechnik nicht gerade weniger. Wertschöpfung ist das, wofür die Kund:innen bereit sind, Geld auszugeben. Das verschiebt sich."
Wo müssen die Unternehmen heute ansetzen?
"Wir kommen aus einer Ökonomie, die den Fokus auf Branchen und Märkte richtete. Die analoge Ökonomie zeichnete sich durch lineare integrierte Wertschöpfungsketten aus. Es ging im Wesentlichen um das Zusammenspiel von Lieferanten, Produzenten und Vertrieb. Die Wertschöpfungstreiber waren Zeit, Kosten und Qualität. In der digitalen Ökonomie kam noch die Flexibilität hinzu, die den Zielkonflikt weiter verschärft. Wer dieses Zusammenspiel beherrschte, konnte sich am Markt behaupten. Heute geht es weniger um die Produktion im klassischen Sinne als um Neue Services. Produktionskosten rücken mit Blick auf die gesamte Wertschöpfung in den Hintergrund. Bei digitalen Produkten und Services haben Sie im Wesentlichen nur Fixkosten und keine Stückkosten, man spricht auch von ‚First Copy Costs‘. Damit ist die Digitalisierung im Kern die ‚billige Kopiermaschine‘. Das hilft uns in der Skalierung unseres Geschäfts."
Was verändert sich dadurch?
"Wir erleben, wie sich Applikationsplattformen zwischen Kunden und Produzenten drängen, der direkte Kontakt geht verloren. Auf der Plattform dagegen können sich Menschen austauschen oder Verkäufer:innen und Käufer:innen sich begegnen. Kund:innen sind Co-Kreator:innen der Wertschöpfung. Je mehr Nutzer:innen sich auf der Plattform finden, desto attraktiver wird sie. Damit steigt auch der Wert des Netzwerks. Es geht also um die Maximierung der Interaktion von Netzwerkteilnehmer:innen, nicht um die Maximierung von Output bei minimalem Input."
Wollen wir Kund:innen das? Früher haben wir für ein Produkt bezahlt, das im Idealfall viele Jahre funktioniert hat. Heute registrieren wir uns auf Plattformen, warten auf Updates. Werden wir da nicht selbst zum Produkt?
"Es ergeben sich Optionen, ohne die Kund:innen zum ‚Produkt‘ zu degradieren. In den USA nutzt beispielsweise ein Anbieter Daten von Scheibenwischern für die Erstellung von Wettermodellen. Es wird nur erfasst, wo im Land die Scheibenwischer der Autos gerade in Betrieb sind und wo nicht. Allein mit diesen Daten können Regengebiete nahezu in Echtzeit erfasst und äußerst präzise Wettermodelle erstellt werden. Ein Beispiel für Co-Kreation in der Wertschöpfung und mit Bezug auf Neue Services ein hoher Mehrwert für die Kund:innen! Um erfolgreich zu sein, müssen Unternehmen sich radikal am Kundennutzen bzw. den Kundenbedürfnissen orientieren. Heute sind die Erfolgsfaktoren Neuartigkeit, Kundennutzen und Skalierbarkeit. Besonders starke Netzwerkeffekte treten auf, wenn Communities gebildet werden. Das können Sie gut in den sozialen Netzwerken beobachten. In der analogen Ökonomie ging es vor allem um Branchen, in der digitalen Ökonomie um Communities. Dabei gilt: Branchen sind Prozesse! Communities sind Menschen! Themen wie Kundennutzen oder Customer Experience erfahren damit eine ganz andere Beachtung als in der Vergangenheit."
Andere Nationen tun sich oft leichter damit, Neue Services zu monetarisieren. Der Begriff Industrie 4.0 wurde zwar in Deutschland geprägt, aber laufen entsprechende Entwicklungen etwa in China nicht viel besser? Was können wir in Europa tun?
"Als Pendant zu Industrie 4.0 findet sich in China die Initiative ‚Made in China 2025‘. Sie soll das Land auf dem Weg zur weltweit führenden Industriemacht unterstützen. Für Europa wäre schon eine gemeinsame Vision ein großer Schritt. Zu den großen globalen Herausforderungen gibt es drängende Fragen, zum Beispiel zu Innovationen, Technologien, Märkten, Wertschöpfung, Infrastruktur und Ressourcen. Diese kann kein Land in der EU alleine beantworten. Veranschaulichen Sie sich die Größe der Wirtschaftsräume weltweit. Das geht nur im ‚Schulterschluss‘."
Die Herausforderungen werden nicht weniger, Beispiel globale Lieferketten: Haben nicht Corona und dann der Ukrainekrieg deutliche Schwachstellen offengelegt?
"Ja, es hat sich aber auch gezeigt, dass unsere Lieferketten grundsätzlich funktionieren. Die Versorgung war und ist sichergestellt. Es muss also darum gehen, die Lieferketten noch robuster gegenüber regionalen Beschränkungen oder Lockdowns zu machen. Kurz- und mittelfristig werden Themen wie Dual Sourcing, Re- und Near-Shoring und Near-Sourcing an Bedeutung gewinnen. Der Wunsch nach Resilienz und Robustheit hat den reinen Fokus auf die Kosten vorerst abgelöst. Ob deshalb langfristig mit einer Glokalisierung zu rechnen ist, bleibt offen. Aktuelle Tendenzen deuten nicht darauf hin."
Welche neuen Ansätze bringt die Industrie 4.0 ins Spiel, um Anfälligkeiten künftig zu reduzieren?
"Zum Beispiel autonome, intelligente Logistiknetzwerke, also die vollständige Digitalisierung und Vernetzung über die gesamte Supply Chain. Transparenz, Effizienz, schlanke Prozesse und Robustheit müssen sichergestellt werden. Das erreichen wir am besten durch digitale Echtzeit-Lieferketten. In diesem Zusammenhang hört man auch den Begriff Logistik 4.0. Logistik ist damit für viele Unternehmen eine zentrale Kompetenz beziehungsweise ein Kernprozess, oft sogar das Geschäftsmodell. Wichtig: Neben Materialflüssen müssen auch Informations- und Finanzflüsse beherrscht werden. Es gilt für Unternehmen, in allen drei Bereichen Exzellenz aufzubauen."
Wird die Künstliche Intelligenz eine entscheidende Rolle spielen?
"Gerade die Logistik ist prädestiniert für Künstliche Intelligenz. Sie können die Logistik nahezu vollständig algorithmieren. Künstliche Intelligenz ermöglicht vorausschauendes Handeln – prädiktiv und präventiv. Das kann die Supply Chains schneller und effektiver machen."
Wenn wir noch einmal über Deutschlands künftige Rolle in Europa und der Welt nachdenken: Wie steht denn der viel beschworene Mittelstand zur Industrie 4.0? Tut man sich mit den von Ihnen genannten Herausforderungen schwerer als die Global Player?
"Tendenziell wurde das Thema Industrie 4.0 zu Beginn eher von Großunternehmen und Konzernen vorangetrieben. Das gilt heute nicht mehr. Im Kontext der Digitalisierung braucht man ein ausgereiftes Prozessmanagement, da gibt es in vielen Unternehmen auch heute noch beträchtlichen Nachholbedarf. Unternehmen scheiterten bisher weniger an der Digitalisierung selbst als daran, Prozesse geeignet abzubilden beziehungsweise ein adäquates Prozessmanagement zu etablieren. Wenn Sie ungeeignete Prozesse digitalisieren, haben Sie nichts gewonnen. Gerade auch für den Mittelstand war und ist das eine Herausforderung. Innovationen im Bereich der Geschäftsmodelle kamen erst relativ spät."
Warum?
"Selbst die Innovation wandelt sich. Ein großer Teil der Unternehmen in Deutschland sieht noch immer Technologie- und Produktinnovationen als Haupttreiber. Der Einzug der digitalen Ökonomie findet meist noch nicht statt. Dementsprechend machen Technologie- und Produktinnovationen in Deutschland rund zwei Drittel aus, weltweit sind es aber weniger als 50 Prozent. Wir müssen darauf achten, den Fokus auch auf Innovationsarten zu richten, die im Kontext der digitalen Ökonomie von besonderer Bedeutung sind, um nicht den Anschluss zu verlieren. Global betrachtet geht es um Geschäftsmodelle, Customer Experience, Prozesse und Neue Services. Die strategische Bedeutung wird schrittweise erkannt. Das verändert auch den Arbeitsmarkt. Unternehmen investieren intensiv in die Weiterbildung von Mitarbeitenden."
Das bringt uns zu einer weiteren Herausforderung, dem Fachkräftemangel. Wie sollen die Unternehmen ihre Mitarbeiter:innen weiterbilden, wenn sie keine haben?
"Der Fachkräftemangel ist ein essenzielles Thema, aber nicht nur in Deutschland! Es trifft uns global. Selbst China fehlen Arbeitskräfte. Das sorgt dafür, dass die Lohnkosten dort ebenfalls steigen. Wegen günstiger Produktion braucht man heute nicht mehr nach China zu blicken."
An der SRH Fernhochschule wirken Sie diesem Mangel aktiv entgegen, indem Sie die Fachkräfte von morgen unterrichten. Wie blicken Ihre Studierenden in eine Zukunft, die von so vielen Unwägbarkeiten geprägt ist und auf eine Arbeitswelt, die höchste Kompetenzen fordert?
"Ihnen ist jedenfalls sehr klar, dass sie nur jene Prozesse und Entwicklungen aktiv beeinflussen können, die sie auch verstanden haben. Unser Ziel ist es, ihren Blick auf die Herausforderungen zu weiten, gleichzeitig aber auch zu schärfen. Es genügt nicht zu lernen, wie etwas bisher gemacht wurde oder aktuell gemacht wird. Morgen wird es anders sein. Das heißt, wir befassen uns mit unseren Studierenden auch intensiv damit, was adäquate Ansätze und Vorgehensweisen in Zukunft sein könnten. Dabei ist es wichtig, dass die Studierenden im Anschluss an Ihr Studium selbst für die Themen stehen können. Aber da bin ich sehr optimistisch. Ich bin überzeugt, dass jede Generation etwas mitbringt oder kann, das die letzte Generation nicht konnte. Von daher habe ich großes Vertrauen in die nächsten Generationen."
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Prof. Dr.-Ing. Stefan Müller
ist seit 2020 Professor für Wirtschaftsingenieurwesen und Digitalisierung an der SRH Fernhochschule und Leiter für die Studiengänge des Wirtschaftsingenieurwesens und Business Development sowie Ansprechpartner für die SPIEGEL-Akademie-Zertifikate Industrie 4.0 und Produktion in der digitalen Welt, Digital Business Management und New Business Development kompakt. Vor seiner Berufung zum Professor war er über 20 Jahre in der Industrie tätig. Seine Industrie- und Managementerfahrung reicht von der Arbeit im börsennotierten Konzern bis hin zum Mittelstand, sowohl in operativen als auch in strategischen Rollen. Zuletzt war er als Konzernleiter Strategie und Unternehmensentwicklung der KUKA AG global für die Bereiche Strategie, Unternehmensentwicklung, Organisationsentwicklung und Business Process Management verantwortlich. Zuvor war er im Vorstand eines Softwareunternehmens, im Anschluss Mitglied der Geschäftsleitung und Divisionsleiter bei einem führenden Flugzeughersteller. Stefan Müller ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.